EINIGKEIT UND ...


In der jetzigen Inszenierung von Tobias Rausch wird die neue teils dokumentarische, teils fiktionale Bühnenarbeit zur Expedition in eine vertraute Fremde. (...) die Aufführung zeigt, wie rechte paramilitärische Einheiten nicht nur in Sinti und Roma-Dörfern ungehindert und mit Rückhalt in der Bevölkerung marschieren, sondern auch mitten in der Hauptstadt Budapest. Und offenbar macht dieses ungarische Neonazitum auch vor gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Morden nicht halt.
Dies alles transportiert ein flott gespielter und mitunter auch amüsanter Theaterabend. (...)
Diese Dynamik erreicht ihre hohen Touren vor allem durch eine rotierende Drehbühne, die auf der einen Seite die deutsche, auf der anderen Seite die ungarische Szenerie vor Augen führt (Bühne und Kostüme: Simone Wildt). In der rasanten und revueartig dargebotenen Szenenfolge, in der auch Karen Dahmen und Volker Muthmann in wechselnden Rollen zur Musik von Mustafa Zekirov mitwirken, sieht sich das Publikum zugleich einem wahren Bombardement von Informationen gegenüber, das auch die Komplexität der jüngeren ungarischen Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln aufscheinen lässt.
Fazit: Dem Heidelberger Theater gelingt mit »Einigkeit und ...« eine inszenatorisch wie schauspielerisch überzeugende Uraufführung, in der sich theatralische Qualität und investigativer Ertrag sehr schön die Waage halten.
Man hat in den letzten Jahren zwar immer wieder von undemokratischen Umtrieben und Vorgängen in Ungarn gehört, die sogar das Kulturleben erreichten, aber welch knallharten Niederschlag diese Tendenzen im Umgang mit den Sinti und Roma finden, dürfte bislang aus dem Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit weitgehend ausgeblendet gewesen sein. Insofern taucht der Theaterbesucher zunächst in eine erschreckende ungarische Fremde ein, deren Schockpotenzial dann aber nochmals empor schießt, wenn die Bühnenexpedition in die vertraut-fremde Heimat Deutschland zurückführt. - Begeisterter Applaus.
(Heribert Vogt/Rhein-Neckar-Zeitung, 18.06.2012)

Eine Schauspielerin tritt vor das Publikum und erzählt vom Mord an einem Roma-Vater und seinem kleinen Sohn. Sie soll eine ungarische Menschenrechtlerin sein, bleibt aber deutlich Schauspielerin und Textvermittlerin. Die nicht anklagt, nicht "auf betroffen macht", sondern einfach erzählt. So wirkt die Menschenjagd auf Roma, die im ungarischen Sprachgebrauch »Zigeunerjagd« heißt, erschreckend normal, so wie die Erzählweise, die hier gewählt ist.
Dann treten ihre Schauspielerkollegen an sie heran, staffieren sie mit schwarzer Perücke aus und stecken ihr rote Kerzen in die Hände, verwandeln sie in die zum Bildklischee geronnene Witwe auf einer Trauerveranstaltung in Budapest. Ein Schauspieler kommentiert das Geschehen, ist dabei aber schon in der Rolle des Dolmetschers einer deutschen Journalistin und unvorbereiteten Beobachterin, deren Gefühle er befragt. Und diese Helen Stiepel ist mehr als irritiert. War sie doch nach Ungarn gekommen, um einen Artikel über die ungarische Partnerstadt ihrer Heimatstadt zu schreiben, und nun das: Ihr Dolmetscher, der sie am Bahnhof mehr aufgabelt als abholt, konfrontiert sie mit den Übergriffen gegen die Roma in Ungarn. Ohne je ihre Partnerstadt zu erreichen, muss sich die Widerstrebende mit den anderen schlimmen Informationen auseinander setzen.
Dokumentartheater- oder Rechercheprojekte tun sich oft schwer, ihre informationsgesättigten Fakten in eine spielerische Form zu bringen. Dirk Laucke montiert in seinem Auftragswerk, für das er in Ungarn recherchiert und Gespräche geführt hat, Berichte und Spielszenen ineinander und lässt die beiden Hauptfiguren ihre Gefühle erklären und ihr Wissen oder Nichtwissen vortragen. Diese Stückkonstruktion ist nicht ungeschickt, gibt sie dem Autor doch die Möglichkeit, sein Informationsstück mit etwas Spielwitz auszustatten. So bekommt das faktengesättigte Stück beides: Nüchternheit wie Lebendigkeit. Aber auch eine etwas eintönige Mechanik, an der sich Regisseur Tobias Rausch lange Zeit mit Erfolg abarbeitet.
Die Handlung springt mit Erinnerungsszenen hin und her. Helen erinnert sich an den Abschied von ihrem Sohn, der in einer Klinik arbeitet. Schon sehen wir ihn, wie er einen alten, demenzkranken Nazi windelt, ihn provoziert, von ihm etwas über seine Vergangenheit erfahren will. Später sieht die Mutter ihren Sohn bei einer faschistischen Demonstration in Budapest, - doch er war nur als dokumentierender Fotograf für einen recherchierenden Kumpel da.
Die leere, offene Bühne bleibt in dieser Inszenierung immer Bühne. Bühnenbildnerin Simone Wildt gibt keine Abbilder realer Räume, sondern lässt die Schauspieler immer wieder Bewegung herstellen: sie müssen ein in den leeren Raum gestellte kleine Doppelzimmerkonstruktion mit Durchblickfenster unentwegt drehen. Das nimmt das Motiv der Reise auf, ist aber auch einfach nur funktional und gibt Regisseur Tobias Rausch die Möglichkeit, schnelle Auftritte zu inszenieren.
Wie er zum Beispiel die Bahnfahrt Helens mit einer Fülle von Begebnissen und Angstphantasien Helens szenisch-pantomimisch beleben lässt, wie hier ein Figurenpanorama Auskunft über das Land und zugleich über die Vorstellungen Helens von diesem Land gibt, während Mustafa Zekirov aus seinen Aktenstapeln am Bühnenrand heraus die Situationen mit Musikinstrumenten und Elektronik atmosphärisch untermalt, das versucht einen Kontrapunkt zu setzen gegen den vom Autor zur schlitzohrig skurrilen Hauptfigur ausgemalten Dolmetscher.
Dieser György, für die Deutsche nennt er sich der Einfachheit halber Schorsch, spricht ein auf Wirkung getrimmtes originelles Deutsch, sagt Sachen wie »Es wird keine Postcard in der Hinsichtlichkeit geben« und ist ein sattes Figurenklischee. Listig, engagiert, gutmütig, eigensinnig, komisch, eben ein Schlawiner mit Herz. Olaf Weißenberg setzt sich geradezu auf seine Rolle, macht sie, nicht allzu aufdringlich, aber doch dominant, zu einer Art ungarischem Schwejk und drängt Helen Stiepel, die schon vom Autor mehr als reflektierender Resonanzraum angelegt ist, vollends in diese Rolle.
Und während Schorsch Helen an die Orte von Übergriffen und zu Betroffenen fährt, erfährt der Zuschauer im doppelten Wortsinn sehr viel, während sich die Schauspieler Florian Mania, Karin Dahmen und Volker Muthmann munter durch ihre vielen Rollen in diesen kleinen, erklärungsgesättigten Begegnungsszenen spielen. Über die rechtsextreme Jobbik-(Die Besseren)Partei, die mit Wahlparolen wie »Kampf gegen Zigeunerkriminalität« sofort 17% der Stimmen bekam, über die Kriminalisierung der zu Sündenböcken gemachten Roma, über einstige Judenverfolgung und heutige Hetze gegen Juden wegen »Versklavung der ungarischen Nation durch das internationale Finanzkapital«, über Angriffe auch gegen Schwule, über paramilitärische Gruppen, die ganze Kleinstädte im faschistischen Griff haben, über Anschlags- und Mordserien, bei denen zuerst die Häuser von Roma in Brand gesetzt und dann die daraus Flüchtenden erschossen werden, über die Arbeit von Lehrerinnen mit Roma-Kindern. "Das geht mir zu nah", sagt die überforderte Helen und fährt ohne irgendeinen Artikel nach Deutschland zurück. Dabei denkt sie über einen ungarischen Vorschlag nach, Deutschland solle dreißigtausend ungarische Roma mit Pass, Arbeitsplatz und Wohnung ausstatten, und eine unendliche Kette von deutschen Ortsnamen rast ihr durch den Kopf. Gegenden, die wohl eher nicht für die Aufnahme von Roma in Frage kämen. Ihr Sohn räumt derweil in Deutschland die Sachen des verstorbenen Demenzkranken in einen Plastikbeutel, - womit auch des Mannes Funktion als Anspielfigur für deutsche faschistische Vergangenheit erledigt ist.
Die pausenlose, mehr als zweistündige Inszenierung von Tobias Rausch trumpft nie auf, sondern ist in gutem Sinne dem Thema angemessen. Über weite Strecken ist das, wenn auch nicht gleich spannend, so doch unterhaltsam. Der Regisseur bebildert nicht, sondern lässt Informationen erspielen. Erst im letzten Teil des viel zu langen, nicht zu Lauckes besten zählenden Stückes wird es dann zäh, auch dem Regisseur geht etwas die Luft aus, und man ist bei allem Einverständnis nicht unfroh, dass endlich das offene Ende kommt.
(Hartmut Krug/nachtkritik, 17.06.2012)

Was in Ungarn, überhaupt in Teilen Osteuropas, derzeit vor sich geht, sollte uns alle kümmern. Meint Dirk Laucke, der 2012 eine Recherche-Reise unternahm. Ihre Ergebnisse sind zum Theaterstück geronnen: »Einigkeit und ...«, seine Uraufführung ist in Heidelberg. Auf Einigkeit und Recht und Freiheit hat sich Helen Stiepel, Hauptfigur des Stücks und Journalistin eines wenig investigativen, putzigen Lokalblatts, bisher stets verlassen können. »Beine hoch und gut«, lautet ihr Lebensmotto, »Gutmensch« ist sie eher keiner. Gutes ungarisches Essen liebt sie umso mehr, was Nicole Averkamp in ihrer Rollendarstellung gebührend würdigt.
Aber da ist dieser Schorsch, ihr Übersetzer, der sie einfach nicht in die gewünschte ungarische Partnerstadt kutschieren will, sondern ihr die Umtriebe in seinem Land vor Augen führt. Mit einer dicken, fleischigen Salami in der Hand gibt Olaf Weißenberg ihm eine massige Präsenz. Sein Deutsch - wir geben nur die Hörbeispiele »Ich verklinkere dir was« und »Ist ihr Mobil unempfänglich?« - könnte selbst Giovanni Trapattoni schwerlich übertreffen. Aber dieser Komiker kann auch zum Chefankläger werden.
Fleißig recherchiert ist Lauckes Stück bestimmt. Viele reale Interviews hat er in seine fiktionale Ebene hineingepackt, und dazu ungezählte Lesefrüchte. Wie bereits vom Brecht-Theater propagiert, werden auch »Fußnoten« gesetzt, meistens von Florian Mania, der ansonsten Helen Stiepels Sohn spielt. Lauckes Stück will, altmodisch, doch absolut berechtigt, Aufklärung betreiben, informieren.
Die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, versucht die Inszenierung von Tobias Rausch, die von Simone Wildt gebaute Drehbühne hilft ihr dabei. Bisweilen glückt es, etwa, wenn balkanische Klischees verbraten werden und Nastrovje-Russen auf die Bühne torkeln. Unklischeehaft ist Mustafa Zekirovs Musik: Da klingen die Akkordeon-Balggeräusche manchmal fast wie eine Dampflok, die in ein Vernichtungslager fährt.
(Hans-Günther Fischer/Mannheimer Morgen, 19.06.2012)

»Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch«: Bertolt Brechts Erkenntnis über die weiter schwelende Gefahr von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit bestimmt auch Dirk Lauckes Stück »Einigkeit und ...«. Uraufgeführt wurde das Rechercheprojekt über die Sinti und Roma in Europa nur einen Steinwurf entfernt vom Dokumentations- und Kulturzentrum deutscher Sinti und Roma, in dem die Verfolgung der beiden Volksstämme während der NS-Zeit dokumentiert wird: im Zwinger 1 des Heidelberger Theaters. Lauckes Reise in Vergangenheit und Gegenwart rassistischer Exzesse bedient sich mit vielen Shortcuts der Stilmittel eines Road- bzw. Railmovies: Während einer Bahnfahrt von Deutschland nach Budapest und dann weiter per Auto durch die ungarische Provinz wird eine Lokaljournalistin mit dem Antiziganismus konfrontiert: Sie erfährt von Mordexzessen und regelmäßigen Razzien bei »dreckigen Zigeunern« in Rumänien, von dem es in einer Szene heißt, es sei »ein protofaschistisches Land«.
Nicole Averkamp spielt diese Journalistin, die für ihr Lokalblatt in der ungarischen Partnerstadt recherchieren soll. Je weiter sie sich von ihrer deutschen Heimat entfernt, desto irritierter gerät sie in den Sumpf der neonazistischen Realität. Als ihr Reiseführer, Dolmetscher und Chauffeur fungiert Schorsch, der in seiner wunderbar radebrechenden Diktion für viel Situationskomik sorgt: eine Glanzrolle für Olaf Weißenberg. Halb Schwejk, halb Truffaldino, gibt er dem gewichtigen dokumentarischen Stoff jene Leichtigkeit, die dem gesamten Projekt bühnenwirksame Flügel verleihen. Das ist deshalb so wichtig, weil Laucke mit vielen Zitaten und Fußnoten arbeitet. Aktenstapel rechts und links der Bühne deuten die schier unerschöpfliche Quellenlage an. Dazwischen ein drehbares Podest, das mal Eisenbahnabteil, mal Auto oder Wohnung sein kann (Ausstattung: Simone Wildt). Gelegentlich ist es auch ein Seniorenheim, in dem Florian Mania als Sohn der Journalistin während seines freiwilligen sozialen Jahrs auf einen Demenzkranken (Volker Muthmann) trifft. Die Erinnerungsbruchstücke des Greises offenbaren, dass er während der NS-Zeit selbst in die Verfolgung von Sinti und Roma verstrickt war. Karen Dahmen assistiert dabei genauso wie in vielen anderen wechselnden Rollen während der zweistündigen Aufführung.
Lauckes stetige Wechsel von Ort und Zeit, von Erinnerung und Gegenwart, aber auch von Fiktion und dokumentarischem Quellenmaterial birgt viele Stolperfallen. Dass dennoch keiner der Akteure ins Straucheln gerät und das Publikum dem Geschehen gebannt folgt, ist das Verdienst des Regisseurs Tobias Rausch. Er gibt den so sprunghaften wie abgründigen Bruchstücken einen Rhythmus, dessen suggestive Wirkung noch von den Klang- und Geräuscheffekten des Bühnenmusikers Mustafa Zekirov verstärkt wird.
(Volker Oesterreich/Die Deutsche Bühne, Juni 2012)